Datum. 2019
Tübingen
der
letzte
bulle
der letzte bulle
Wir schreiben das Jahr 2022. Vor ungefähr 3 Jahren bin ich nach Südamerika ausgewandert, um dort meiner Leidenschaft der Kunst nachzugehen. Heute ist der erste Tag in meiner Heimatstadt Tübingen. Ich habe die deutsche Braukunst vermisst, deshalb bin ich zurückgekehrt. Lange habe ich auf diesen Moment gewartet, auf der Stiftskirche sitzend, mit einem kalten Bier, erzähle ich euch von meinem ersten Tag.
Ich bin heute morgen um 7 Uhr, mit dem Regionalexpress vom Stuttgarter Hauptbahnhof nach Tübingen gefahren, mit knappen zwei Tagen Verspätung. Ich sprang euphorisch aus dem Zug raus und mich strahlten moderne Architektur, strahlend weiße Wände und rot-weiße CDU Wahlplakate an. Für einen kurzen Moment dachte ich, ich wäre aus Versehen nach München gefahren, bis ich das blau-weiße Bahnhofsschild „TÜBINGEN HBF“ entdeckte. Mit gemischten Gefühlen lief ich in Richtung Bahnhofsausgang. Ich fühlte mich von uniformiert gekleideten Menschen und unzähligen Linsen beobachtet und nackt zugleich. Am Busbahnhof vorbei, schlenderte ich weiter und freute mich auf eine gute Aksaray Pizza. Heute war Sonntag, 3,50 € hatte ich noch in meiner Hose. Als ich dort ankam, stockte mein Atem. Dort wo einst das Dönerhaus war, glänzt heute ein Starbuckskaffe. Das Epple-Haus war weiß und gehörte zu einer großen Hotelkette. Die Punker wurden zu Yuppies, welche ihre neuen Sneakers begutachteten. Ich war perplex und fragte den nächsten Menschen den ich traf, in welcher Stadt ich sei. „You are in Tübingen. You‘re Welcome!“, antwortete der Mann verdutzt. Ich setzte mich auf die nächste Bank und ließ die Eindrücke wirken. Ich beobachtete eine Gruppe Studenten, wie sie mit Selfie-Sticks Star Wars imitierten. „Miguel? Miguel, bist du es!?“, sprach eine verunsicherte Stimme von hinten. Ich drehte mich um und erkannte ihn wieder. Es war Lukas, ein alter Schulfreund. Wir freuten uns, dass wir uns wieder sahen. Nachdem wir uns eine Weile über meine Zeit im Ausland unterhielten, fragte ich ihn, was aus unserer Stadt geworden sei. „Es ist viel passiert, seit dem du gegangen bist. Ich versuche es dir zu erklären“ antwortete Lukas mit zitternder Stimme.
„Du wirst dich sicherlich erinnern, als 2019 der Graffiti-Terror unser geliebtes Tübingen heimsuchte. Es waren finstere Zeiten. Alles begann wegen dieser „öffentlichen Morddrohung“ zwischen zwei Graffiti-Banden, direkt hier an der Steinlachunterführung. Erinnerst du dich daran, Miguel?“, fragte mich Lukas. „Ja, das muss kurz vor meiner Abreise gewesen sein“, antwortete Ich. Er fuhr fort: „Ich besuchte zu jener Zeit häufig die Gemeinderatssitzung, in einer davon wurde über das Thema Graffiti diskutiert. Der Gemeinderat beschloss die Unterführung für 15.000 € reinigen zu lassen und gab weitere 60.000 € frei, damit Hauseigentümer die Schmierereien auf Kosten der Stadt beseitigen lassen konnten. Außerdem wurde ein Kopfgeld von 2500 € auf die Sprüher ausgesetzt. In dieser Sitzung war auch ein Künstler, der vorschlug die Unterführung bemalen zu lassen, er erinnerte mich an dich, Miguel. Ich fand den Vorschlag gut, jedoch wurde er als Schmierer betitelt und am Kragen aus der Sitzung geworfen. Danach änderte sich alles.“ Ein Mann, der neben uns auf der Bank saß, klinkte sich mit ins Gespräch ein: „Entschuldigung, dass ich störe, aber Ich erinnere mich auch. Damals, das waren schöne Zeiten. Ich wollte in jenem Sommer sowieso mein Haus sanieren lassen, das Geld für die Außenfassade konnte ich mir glatt sparen. Mein Haus wurde leider nicht beschmiert, doch dann kaufte ich mir einfach eine Sprühdose und bemalte es eines Nachts selbst. Das war ein heiden Spaß! Die 3000 € Rechnung vom Maler übernahm dann einfach der Boris. Schee wars! Jedoch wurde das bald zu einem Trend und das Pensum war innerhalb von zwei Wochen aufgebraucht. Ich muss los, euch noch einen schönen Tag.“ Der ältere Mann stand auf und ging davon. Lukas wischte sich mit einem Taschentuch eine Träne aus dem Gesicht und fuhr fort. „Das Kopfgeld änderte alles. Tübingen glich dem Wilden Westen. Die Graffiti-Terroristen sollten gefasst werden, tot oder lebendig. Aus Pferden wurden E-Bikes, aus Waffen wurden Smartphones. Die Leute hatten ein neues Feindbild für ihre privaten Probleme gefunden, Graffiti diente als Ventil. Die Steinlachunterführung wurde zur Klagemauer Tübingens. Die Stadt reinigte sie und am nächsten Tag war ein neuer Spruch dort zu lesen. Ein Teufelskreis. Boris Palmer kündigte 2019 an, dass er die aktivsten Sprayer dieses Jahr erwischen wolle. An Silvester musste er leider feststellen, dass es noch immer keine Fahndungserfolge gab. An jenem Tag beschloss er, es selbst in die Hand zunehmen.“ „Wie das denn?“, unterbrach ich Lukas. „Du wirst es nicht glauben. Er erhöhte das Kopfgeld auf 20.000 €, legte sein Amt als OB nieder, schulte sich um und ist heute Hauptkommissar der Sonderkommission Graffiti. Er gründete parallel dazu die Anti-Graffiti Bürgerinitiative. Er und seine Mitstreiter legten sich nachts auf die Lauer, getarnt als Fliese in der Steinlachunterführung, als Busch in der Innenstadt und ebenso patrouillierten sie nachts mit trainierten Lackspürhunden durch die Gassen. Die Sprayer stockten gegen die ausgeübte Selbstjustiz ebenfalls auf und zogen nur noch bewaffnet mit Pfeil und Bogen oder Schwertern durch die Gassen. Es kam zu blutigen Auseinandersetzungen. In die Anti-Graffiti Politik flossen in den letzten drei Jahren eine halbe Millionen Euro. Du erinnerst dich sicher an den geplanten Konzertsaal, welcher beim alten Uhlandbad gebaut werden sollte“ Ich nickte. „Dieser Konzertsaal steckt, wie damals das Gebäude an der blauen Brücke, im Rohbau fest, da das Geld ausging. Das Geld fehlte überall. Eltern mussten zusammenlegen, um öffentliche Spielplätze zu bauen und finanzierten ebenfalls das neue Hallenbad. Palmer jedoch ging in seinem neuen Beruf auf, wie ein Braunkohleofen und vermutete, dass die Flüchtlinge hinter den Schmierereien steckten. Aufgrund der steigenden Gewalttaten wurde das Volk ängstlich und wählte letztes Jahr die CDU. Seitdem fühlt sich das Volk anscheinend wieder sicherer, aber du siehst selbst für welchen Preis.“
Lukas brach in Tränen aus und schlug die Hände vor sein Gesicht. Ich tröstete ihn und spürte selbst, wie mir eine Träne über das Gesicht lief. Nun sitze ich wie damals in unzähligen Nächten, tief bedrückt auf dieser Treppe und denke mir, ich hätte nie fliehen sollen.